Promenadologie für Anfänger

Da unterschiedliche Arten der Fortbewegung und Orientierung im Raum und der ästhetisch-forschenden Wahrnehmung ein Leitthema meines Blogs sind:  warum nicht mal ein paar methodische Zugänge vorstellen?

  1. STADTERKUNDUNG UND ORIENTIERUNG

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Wie finde ich mich in einer Stadt zurecht? An welchen Fixpunkten kann ich mich orientieren? In welcher räumlichen, vielleicht auch inhaltlichen oder ästhetischen Beziehung stehen sie zueinander? Welche Barrieren und Schneisen (Strassen, Flüsse etc.) zerteilen die Quartiere? Welche Verbindungen gibt es? Brücken? Blickachsen? Was kenne ich schon? Und was vermute ich hinter der nächsten Biegung, obwohl ich da noch nier war? Wie geht Kartenlesen? Und wie „lese“ ich meine Umgebung?

Fragen wie diesen geht Architekturvermittlerin Jessica Waldera von den kleinen Baumeistern zusammen mit Jugendlichen einer Berliner Integrationsklasse nach. Sie studieren den Stadtplan, folgen Straßenschildern, kartographieren, machen Fotos, Skizzen und Notizen, an markanten Stellen bleiben sie stehen: „Wer hat diese Brücke gebaut? Ah, Karl Schinkel – hat der nicht auch diese eine Kirche entworfen?“ „Warum stehen Polizisten vor diesem Gebäude mit den runden Kuppeln? Was ist das eigentlich?“ „Wozu dieser riesige Torbogen, wo die Menschen doch nur zu Fuß da durch gehen?“ „Und siehst Du diese Säule, wenn man durch das Tor durchschaut? Da ganz da hinten mit was Goldenem oben drauf?“ Wo kommt man eigentlich hin, wenn man von hier aus  immer an der Spree entlanggeht?“

Ich begleite Jessica, als die Auswertung der Stadterkundungen ansteht. Nun wird gemalt, ausgeschnitten, sortiert, rekapituliert, geklebt, beschriftet. Ich bin beeindruckt und irgendwie gerührt, mit welchem Eifer sich die Jugendlichen ihre Welt zusammenkleben. Auch die Jungs. Während ich den Jugendlichen bei ihrem Tun zuschaue wird mir klar: räumliche Orientierung, das Sich-Verorten und intuitive Zurechtfinden in der Umgebung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Jeder, der ein an Demenz erkranktes Familienmitglied hat, der sich schon einmal im Wald verirrt hat oder sich in einer fremden Stadt zurechtfinden musste, deren Sprache er nicht spricht und deren Schilder er nicht lesen kann, weiß wie wichtig das ist. Um wievieles mehr gilt das für diese jungen Menschen, die ihre Heimat verlassen haben und mit Fremdheitserfahrungen auf allen Ebenen umgehen müssen? Und so ist diese recht pragmatische Herangehensweise an gebaute Umwelt genau der richtige Zugang für diese Zielgruppe und liefert handfeste Ergebnisse zum An-die-Wand-pinnen.

 

2. ÄSTHETISCHE FORSCHUNG

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Beim ästhetisch-forschenden Lernen geht es weniger um das Ergebnis, als um das „Wie“ des Wahrnehmens und Forschens, um den subjektiven Erkenntnisgewinn mithilfe ästhetischer Erfahrungen. Beim Netzwerktreffen der Frankfurter Kultur.Forscher!-Schulen, einem von der PwC Stiftung geförderten Schulprogramm, bekomme ich einen praktischen Einblick in ein Forschungsprojekt, das Stefanie Endter vom Weltkulturenmuseum zusammen mit Lehrer*innen der IGS Herder entwickelt und umgesetzt hat: Feldforschung_im_Ostend. Angelehnt an die Forschungsmethoden der Feldforschung sollen die Kinder und Jugendlichen anhand kultureller Phänomene das Viertel erkunden, in dem ihre Schule steht. Wir machen einen Schnelldurchgang. Kunstlehrer Dirk Johanns erklärt uns unseren Auftrag: Hinausgehen, uns mit „fremdem“ Blick in der Nachbarschaft umsehen, 3 Fundstücke fotografieren, Größe, Material, Fundort und Datum notieren.

Los geht’s. Wieder einmal bin ich überrascht, wie anders ich meine gewohnte Umgebung wahrnehme, wenn ich eine bestimmte Brille aufsetze. Was interessiert mich? Was weckt meine Neugierde? Welcher Sache möchte ich auf den Grund gehen? Häufig sind es (auch bei den anderen) die unscheinbaren Dinge, die „nicht ins Bild passen“; über die wir irgendwie „stolpern“: da ist z.B. der öffentliche Mülleimer, der grün ist, wo alle anderen blau sind (inzwischen weiß ich, dass er Teil einer Müllkampagne der Stadt Frankfurt ist). Es ist ein Turnschuh, der einfach auf dem Bürgersteig liegt, als wäre sein/e Besitzer*in beim Gehen hinausgeschlappt ohne es zu merken und einfach weitergegangen (war’s Aschenputtel?). Ein Dixiklo steht etwas verloren auf dem Gehweg (aber weit und breit keine Baustelle). Oder eine Überwachungskamera (welchen Schatz hütet sie, an einem Haus, das unscheinbarer nicht sein könnte?).

Welche Geschichte erzählen diese Dinge? Welche Fragen werfen sie auf? Und: Wie können wir diesen Fragen nachgehen? Der möglichen Fragen und Forschungsmethoden sind grundsätzlich keine Grenzen gesetzt. Wir machen erste zaghafte Versuche und erfahren beispielsweise im Gespräch mit einem Nachbarn, dass es zu dem Dixiklo durchaus eine Baustelle gibt – und überhaupt, wie viele Umbau- Ausbau-, und Neubaumaßnahmen es hier im Frankfurter Ostend derzeit gibt. Die Gentrifizierung lässt grüssen.

Zurück in der IGS tragen wir unsere Fundstücke und ersten Forschungsergebnisse zusammen. Die sind viel spannender als ich es vermutet hätte; selbst das Wenige, was wir in der kurzen Zeit (heraus-) gefunden haben, verrät mehr über das Viertel (und das sehr lebensnah), als viele andere Herangehensweisen es ermöglicht hätten. „Verschlagwortung des Ostends“, so nennt Johanns die systematische Erfassung der gesammelten Fundstücke und der zusammengetragenen Daten.

Nun wird’s literarisch: Wir denken uns Geschichten zu unserem Fundstück aus: Wo wurde es hergstellt? Wem gehört(e) es? Und wie kommt es an diesen Ort? Das Ergebnis sind höchst originelle, witzige, poetische, überraschende, eben literarische Texte, die sowohl unserem Fundstück, als auch unsererm Forschungsfeld, dem Frankfurter Ostend eine künstlerische Dimension geben.

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So kann man immer weiter in die Tiefe gehen.  Fragen und Antworten sind, wie jede/r Forscher*in weiß, prinzipiell unendlich. Wichtig ist, dass sie dem eigenen Interesse entspringen. Und dass nicht nur der Kopf angesprochen wird, sondern eben auch Herz und Hand. Das gilt auch für uns. So bilanzierte meine Studienkollegin Beate: „Durch das Tun habe ich sofort verstanden, was ästhetische Forschung ist.“

 

3. PROMENADOLOGIE

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Ich mag allein schon das Wort. „Promenadologie“ – das hat etwas wundebar Entschleunigtes. Angemessen entspannt sind denn auch Bertram Weisshaar und Martin Schmitz die uns Kultur.Forscher! – Netzwerker aus ganz Deutschland in diese Kunst, auch Spaziergangswissenschaft genannt, einführen. Hinter diesen putzigen Begriffen steckt eine um wissenschaftliche Anerkennung ringende, in jedem Fall unorthodoxe, gewohnte Betrachtungsweisen des Individuums herausfordernde Herangehensweise an gebaute Umwelt. In diesem Fall: die Umgebung rund um unser Hotel in Baunatal.

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Unsere Aufgabe ist denkbar einfach: wir sollen dem roten Strich auf einer Google Earth Karte folgen. Kann ja nicht so schwer sein, denke ich – bis ich die Karte sehe … Schon nach 100 Metern das erste Hindernis: Der Edeka steht im Weg.

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Was tun? Kein Problem für Promenadologen wie uns. Kurze Lagebesprechung, dann umgehen wir das Problem-Gebäude kurzerhand; aber immer schön dicht dran entlang. Das allerdings ruft eine Edeka Mitarbeiterin auf den Plan, die zutiefst irritiert ist über die Karavane, die sich da am Haus entlangschlängelt. Zwar wurde dem restbegrünten Supermarktgelände zwischen Parkplatz, Müllcontainern und Lagerhalle sicher noch nie so viel wertschätzende Aufmerksamkeit zuteil, aber man sieht uns unser aufrichtiges, ja sogar wissenschaftliches Interesse offenbar nicht auf den 1. Blick an. Jedenfalls tut die Frau, was viele Menschen tun, wenn sie verunsichert sind: erst mal losschimpfen.

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Regel No 1: immer den direkten Weg nehmen

Da niemand sie in ihrem Ärger so recht ernst nimmt, eskaliert die Lage („ihr Wichser“), was später zu einer Diskussion über das Phänomen des Terretoriums und das Übertreten von Grenzen – den Sichtbaren und vor allem den Unsichtbaren – führt. Da haben wir im wahrsten Sinne ganz schön was losgetreten – dabei sind wir erst rund 150 Meter weit gekommen.

50 Meter und eine abschüssige Böschung später landen wir unversehens bei einem von Wohnhäusern umstandenen morastigen Biotop. Wie das jetzt hier hinkommt? Keine Ahnung. Auf mich wirkt es als hätte eine wildgewordene Bürgerinitiative dieser merkwürdig gesichtslosen Ansammlung von Funktionsbauten und Wohnhäusern wenigstens ein (schön quadratisches), keiner direkten Nutzung zugängliches Fleckchen Erde abtrotzen wollen. Als Forscher*in darf ich sowas bestimmt nicht denken und schon gar nicht schreiben. Also zurück in den Forscher*innenmodus.

Weiter geht es durch ein Wohngebiet. Ich bewege mich, als wäre ich auf dem Mond gelandet. Jedes noch so banale Detail erscheint mir plötzlich neu und bedeutungsvoll. An einem Wendehammer mit lauter angrenzenden Privatgrundstücken wollen wir beinahe aufgeben. Aber eine von der Edeka-Erfahrung geläuterte, gleichwohl beherzte Kollegin bittet erfolgreich um Durchlass. Unter den kopfschüttelnden Blicken der Hausbesitzerin setzen wir unsere Promenade zwischen Garage, Rosenstauden und Fußballtor fort über die dahinterliegende grüne, seltsam ungenutzt Wiese dem nächsten Abenteuer entgegen…

Ein solcher Spaziergang birgt tatsächlich schon auf wenigen 100 Metern jede Menge Überraschungen und einen Hauch von Abenteuer an einem Ort, der mir geradezu gruselig vorhersehbar erscheint. Nicht nur, dass ich anders sehe, ich sehe auch Anderes: Brachen und die vernachlässigten Rückseiten der herausgeputzten Vorderseiten. Aber auch unvermutete, intime „Idyllen“. Zudem nähere ich mich aus ungewohnter Perspektive. Fragen der Stadtplanung tauchen auf, überhaupt der Planung: Wer plant was, wie und warum? Ein Zitat von Lucius Burckhardt, dem Vater der Spaziergangswissenschaften, bleibt hängen:  „Die Verschlechterung unserer Umwelt ist nichts anderes als die Summe dessen, was bei der Planung unter den Tisch fiel.“ Also gut, holen wir es dort wieder hervor! Darum mein Fazit: ein hochinteressante Disziplin. Sie sei allen Soziolog*innen, Städte- und Landschaftsplaner*innen, Architekt*innen und auch Kulturellen Bildner*innen wärmstens empfohlen, sowie all jenen, die immer schon mal durch fremder Leute Gärten stiefeln und hidden und forbidden places entdecken wollen (also allen Kindern 🙂

 

 

 

…und noch ein paar Links:

Stadterkundung:

Anke M. Leitzgen und Lisa Rienermann: „Entdecke deine Stadt. Stadtsafari für Kinder.“

Lehrerhandbuch „StadtteilDetektive“ des Deutschen Architekturmuseums (Downoload)

Ästhetische Forschung:

Christina Leuschner und Andreas Knoke (Hrsg.): „Selbst entdecken ist die Kunst“

Carina Herring: Ästhetische Forschung in der Schule und in der Kunstlehrerausbildung

Blog über ein ästhetisches Forschungsprojekt zweier Studentinnen.

Spaziergangswissenschaft:

Audio Downloads bei Talk-Walks

 

 

Falls Ihr weitere Anregungen habt, schickt mir Links oder Projetbeschreibungen. Ich werde sie hier gerne veröffentlichen.

Vielen Dank an Anja Littig für die Projektdokumentation_Frankfurter_Nordend.

 

 

 

 

2 Gedanken zu “Promenadologie für Anfänger

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