Überall säuselt, flüstert, zischelt es. Die Stadt spricht mit mir, ganz Kassel ist ein einziges, unheimliches Raunen. Und immer wieder dieser Satz: „Ignoranz ist eine Tugend.“ Ich kann mich ihm nicht entziehen, bleibe zuweilen wie hypnotisiert stehen. Er wirkt wie ein Mantra, das durch alle Poren dringt, sich durch die Gehörgänge windet, den Kopf mit einem Summen erfüllt und in jede Zelle meines Körpers einzudringen scheint. Was ist innen, was ist außen? Bin das schon ich, das da spricht? Und manifestiert sich der Satz (ein Trump-Zitat) durch seine ständige Wiederholung? Womöglich in mir?
Mir wird schwindelig.
Diese Documenta geht unter die Haut, jedenfalls unter meine. Der Dauerattacke auf mein persönliches Betroffenheitszentrum habe ich nicht viel entgegenzusetzen. Vielleicht liegt es daran, dass ich zur Zeit tatsächlich recht dünnhäutig bin. Vielleicht ist es auch die schiere Masse an Kunstwerken, die mir die (politischen) Missstände auf der ganzen Welt vor Augen führen aber kaum Ursachenforschung betreiben und mich ohnmächtig und mit einem Gefühl körperlich schmerzender Beklemmung im Brustkorb zurücklassen anstatt mit einer Handlungsoption als Ventil und Ausweg.
Zu Klangkörpern verarbeitete Wrackteile von havarierten Flüchtlingsbooten, ein gruseliger Vorhang aus zwangsgekeulten Rentierschädeln mit Einschusslöchern, Beate Zschäpe als Schrumpfkopf, ein fieses riesenpopeliges Etwas, ein noch fieseres Video über Sadomaso-Spielchen, eine interaktive Scheinhinrichtung, die großartigen, aber verstörenden Bilder von Miriam Cahn. Wo ich auch gehe, wohin ich auch sehe – die Welt ist ein grausamer, hässlicher, von Menschenhand geschaffener Ort.
Als geradezu perfide empfinde ich die Installation von Pelagie Gbaguidi: Ein lichter Bogenfenster-Gang mit langen, weißen Stoffbahnen behangen, dazwischen ein Schaukelpferd und schicke „Vintage“ Schulbänke. Bei so viel freundlicher Luftigkeit wähne ich mich in einer kleinen Oase … puuh, erst mal durchatmen … Erst bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die fröhlichen Kinderkrikeleien auf den Stoffbahnen als albtraumhafte Szenen und verzerrte Fratzen und die ganze Inszenierung als eine Art perverse Bildungsanstalt. An der Wand entdecke ich Zettel mit Zitaten: „Ein Sklave, der seinen Besitzer, seine Besitzerin oder deren Mann oder Kinder schlägt, wird mit dem Tod bestraft.“ Der Satz geht mir durch Mark und Bein. Er stammt aus dem sogenannten „Code Noir“, einem 1685 erlassenen Dekret, das die Praxis der Sklaverei im französischen Kolonialreich gesetzlich regelte. Daneben hängen Kopfhörer. Ich setzte einen auf und höre berückend schöne Klänge von Johann Sebastian Bach – die Musik der westlichen, gebildeten Welt jener Zeit. „The Missing Link. Decolonisation Education by Mrs Smiling Stone“, so heißt das Kunstwerk. Für mich ist es eines der Besseren auf der Documenta. Aber auch wenn die künstlerisch gestellte Frage ob und wie sich Ent-Kolonialisierung erlernen lässt, eine ist, die eine hoffnungsvolle Zukunft für möglich hält, fühle ich mich schier erschlagen von der „hinterhältigen“ Brutalität des Kunstwerkes.
Am Ende des Tages komme ich mir irgendwie vergewaltigt vor. Auf dem Rückweg arbeitet es in mir. Jaja, schon klar: Kunst darf, soll, muss aufrütteln, irritieren, unbequem sein etc. Manchmal tut sie weh. Aber heute rebelliere ich. Meine Jungs sind schon vor Stunden in die innere Immigration gegangen. Auch ’ne Möglichkeit.
Ich sinniere über Kunst und Macht. Kunst Macht etwas mit mir. Aber hat Kunst auch die Macht, (über mich) die Verhältnisse zu verändern? Sie gar kontrolliert zu steuern? Und wer hat die Macht, zu entscheiden, was ich wo und wie zu sehen bekomme? Wer hat die Deutungsmacht darüber, was „gute“ Kunst ist? Welche Kunst sich in der Museumslandschaft und auf dem Markt durchsetzt? Welche Kunst sich dementsprechend reproduziert?
Wer Macht Kunst?
Der/die (autonome) Künstler*in? Adam Szymczyk? Die Besucher qua Eintrittsticket? Brad Pitt? Ich weiß, die Frage ist weder originell, noch neu. Vielleicht stößt sie mir auch deswegen so auf, weil sich die Documenta 14 als Bollwerk der Demokratie geriert, gleichzeitig aber Teil eines Systems ist, das unverholen undemokratisch und exklusiv ist und welches eine der wenigen schicken Methoden ist, eine ordentliche Rendite für sein Geld zu bekommen (funktioniert nur, wenn man ordentlich viel davon hat). Mir brummt der Schädel.
Ich denke weiter: sind die demokratischen Strukturen, die in der Vermittlungsarbeit ausprobiert werden, ein begrüßenswerter Vorstoß oder eine Art Feigenblatt? Die Kunstvermittler*innen – das sind hier nicht die Leute, die einem mit viel Fachwissen die (Kunst-) Welt erklären, sondern die Documenta Besucher*innen selber. WIR ALLE sind die Experten; jeder ist eingeladen, sein Wissen, seine Ideen, seinen Erfahrungsschatz einzubringen – und der ist genauso viel „wert“, wie der des „eigentlichen“ Experten. Deshalb heißen die Führungen jetzt „Chor“. Und deshalb entstehen ziemlich lange und unangenehme Schweigepausen, weil es eben schwierig ist, im Kreise von völlig Fremden etwas halbwegs Brauchbares zu sagen, wenn der einzubringende Erfahrungsschatz gefühlt gegen Null tendiert. Vielleicht ist das alles aber auch nur ungewohnt, und wir wollen eben (noch) den guten alten autoritären „Frontalunterricht“ zurück …
Ich schliesse die Augen und beschliesse, ein anderes Mal weiterzudenken. Auf der Autobahn dämmere ich der Nacht entgegen … Ignoranz ist eine Tugend. Ignoranz ist eine Tugend. Ignoranz ist …